Eine unvergessliche Erfahrung

Eine unvergessliche Erfahrung durften die Schüler der 9. Jahrgangsstufe der Rochus- Realschule Bingen auf dem Jakobsberg machen. Dort trafen sie mit zwei Überlebenden der deutschen Besatzungszeit in Polen aufeinander und erfuhren von ihren schlimmen Erfahrungen, die sie während der Zeit der Naziherrschaft machen mussten. 

Eine der zwei Schülergruppen traf mit Herrn Ignacy Golik zusammen. Der heute 97-jährige wurde am 16. Januar 1922 in Warschau geboren und musste dort den Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach dem Überfall auf Polen mitansehen. Für ihn als siebzehnjährigen stand jedoch fest, dass man Wiederstand gegen die deutsche Besatzung leisten musste. Daher schloss er sich dem polnischen Widerstand an und war u.a. beteiligt an der Herstellung und dem Verteilen von Flugblättern.Bereits 1941, so berichtete er den Schülern, wurde er jedoch schon von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und ins berüchtigte Pawiak-Gefängnis gebracht. Neben ihm wurden auch noch sein Bruder und dessen Frau sowie deren Muttervon den Nazis verhaftet. 

Nach kurzer Verweildauer im Gefängnis, brachte man ihn ins Vernichtungslager Auschwitz. Dort registrierte man ihn mit der Nummer 9.898, die man ihm auf den linken Unterarm tätowierte. Da er deutsch sprach, wurde er einem Kommando zugeteilt, das im Krankenrevier SS-Angehörige versorgte. Nach zwei Jahren Aufenthalt im Lager, wurde Ignacy Golik ins Lager Sachsenhausen nach Berlin verlegt. Dies geschah, da die Rote Armee immer weiter im Osten an Boden gewann. Nach einem kurzen Aufenthalt in dem Lager, aus dem die SS die Mordaktionen in allen Lagern der Nationalsozialisten koordiniert hatte (die Zentrale lag in Oranienburg), brachte man ihn in ein Nebenlager des Frauenlagers Ravensbrück. Hier im Lager Barth musste er Flugzeugteile für die Firma Heinkel herstellen. Dabei war der Hunger eine schlimmere Bedrohung als die Wärter, die noch in Auschwitz eine ständige Todesangst ausgelöst hatten. Der Hunger war so groß, dass er bei seiner Befreiung nur noch 42 Kilogramm wog. 

Die Befreiung erlebte er jedoch nicht im Lager selbst, da die Nazis die Insassen noch kurz vor ihrer Befreiung auf einen Todesmarsch schickten. Dabei wurde jeder, der mit dem Tempo nicht mehr Schritt halten konnte und hinter die Marschkolonne zurückfiel, erschossen. Doch auch dieses letzte Martyrium sollte Ignacy Golik überstehen. Nach der Befreiung durch die Rote Armee in der Nähe von Rostock führte es ihn endlich wieder zurück in seine Heimatstadt Warschau. 

1964 sollten ihn die Ereignisse der Jahre vor 1945 jedoch noch einmal vollends einholen. Durch seinen langen Aufenthalt im Lager Auschwitz, er war ja schließlich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt dort eingesperrt worden, war er zu einem äußerst wichtigen Zeugen im Rahmen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, der im Jahr 1964 stattfand, geworden. Durch seine Aussagen half er dabei die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten mit aufzudecken und einige der Verbrecher ihrem gerechten Urteil zuzuführen. 

Nach den Prozessen arbeitete Ignacy bis 1988 als Journalist weiter und machte es sich zur Aufgabe junge Menschen von seinem Schicksal zu berichten und sie vor den Gefahren diktatorischer Regime zu warnen.

Die anwesenden Schüler waren von seinen Ausführungen gefesselt und hörten ihm andächtig zu. Ihre Meinung im Anschluss an das Gespräch war demgemäß einhellig, indem sie feststellten, dass sich eine solche Grausamkeit unter keinen Umständen mehr wiederholen darf. Auf Einladung der Geschichts-AG und durch die Kooperation mit Herrn Bauer vom Bischöflichen Ordinariat Mainz, teilte Herr Golik mit Schülern der Schul-AG seine Erfahrungen wenige Tage später auch noch einmal im Schulgebäude der Rochus-Realschule. 

 

 

Die zweite Gruppe der 9. Jahrgangsstufe der Rochus-Realschule traf in ihrem Gespräch auf Frau Henriette Kretz. 

Henriette Kretz berichtete den Schülern zunächst davon, dass sie bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Polen in behüteten Verhältnissen aufwuchs. Ihr Vater war ein angesehener Arzt und ihre Mutter, eine studierte Anwältin, kümmerte sich liebevoll um ihre Tochter. Henriette bekam zum ersten Mal einen Eindruck von den Kriegsgeschehnissen, als sie verwundete polnische Soldaten auf Lastwagen durch ihren Heimatort fahren sah. Sie konnte sich die bald folgenden Konsequenzen jedoch noch nicht ansatzweise ausmalen. Ihr Vater und ihre Mutter hatten jedoch schon von den antijüdischen Gesetzen in Deutschland gehört und beschlossen zusammen mit ihrer Tochter in den gemäß des Hitler-Stalin Paktes durch die Sowjetunion annektierten Teil Ostpolens zu fliehen. Dort waren sie jedoch nur bis zum Einmarsch der Wehrmacht in Russland im Juni 1941 in vermeintlicher Sicherheit. Die folgenden Jahre sollten für die Familie zu einem dauernden Versteckspiel werden. Nachdem Henriette sich zunächst bei Bekannten ihres Vaters hatte verstecken können, wurde sie dort jedoch durch den Verrat eines Nachbarn von den deutschen Besatzern verhaftet. Man brachte sie ins örtliche Gefängnis, wo vor allem Frauen auf ihren Abtransport in eines der Vernichtungslager warteten. Henriette musste dort miterleben, wie ein gerade entbundenes Baby in die Zelle geworfen wurde. Sie gab den Frauen ihren Mantel, um dem Baby wenigstens etwas Wärme zu spenden. Sie berichtete den Schülern davon, dass sie zu Gott begann zu beten und sich schwor, das Baby für den Fall ihrer Rettung mit in die Freiheit zu schmuggeln. Als dann jedoch eines Tages die Zellentür geöffnet wurde und man ihren Namen rief, vergaß sie vor lauter Freude ihr Vorhaben. Nach dem Krieg sollte sie zu ihrer Freude erfahren, dass das Baby von damals den Krieg überlebt hatte. 

Henriette konnte also das Gefängnis verlassen. Ihr Vater hatte wohl von ihrer Verhaftung erfahren und konnte, obwohl er im örtlichen Ghetto mit den übrigen noch verbliebenen Leidensgenossen zusammengepfercht worden war, über alte Kontakte, ihre Freilassung erwirken. Es waren ebenfalls alte Beziehungen, die ihnen eine weitere Flucht aus dem Ghetto vor einer möglichen Deportation ermöglichten. Die Familie kam so bei einem ukrainischen Feuerwehrmann unter, der sie im Kohlekeller versteckte. Diesen durften sie über Monate nicht verlassen und mussten zumeist in kompletter Dunkelheit in einer gebückten Haltung dort ausharren. Eines Tages teilte ihnen ihr Beschützer mit, dass sie auf den Speicher des Hauses umziehen könnten. Henriette konnte aufgrund der dauerhaft gebückten Haltung kaum noch aufrecht gehen und verspürte einen sofortigen Schwindel. Der Speicher wirkte auf sie geradezu wunderbar, da sie Tageslicht sehen und auch einen Blick in die Freiheit werfen konnte. Die vermeintliche Rettung schien aufgrund des Rückzuges der Wehrmachtstruppen auf breiter Front nahe. Eines Tages jedoch erschienen deutsche Soldaten im Haus und forderten die Herausgabe der jüdischen Familie. Wiederum hatte sie wohl ein Mitwisser verraten.  Die Soldaten gingen auf den Speicher und nahmen Familie Kretz fest. Später erfuhr Henriette, dass ihr Retter aufgrund der geleisteten Hilfe zusammen mit seiner Frau von den Deutschen erschossen worden war. Ihr Vater wusste im Moment der Festnahme genau, dass man sie zu einem Sammelplatz für weitere Transporte in eines der Vernichtungslager bringen würde. Er weigerte sich daraufhin den Soldaten weiter zu folgen und forderte sie dazu auf, sie dann bitte auch hier und jetzt zu erschießen. Henriette schilderte den Schülern, dass der Soldat sich zu ihm umdrehte und ihm erwiderte, dass er seinem Wunsch dann nachkommen werde. Als er die Pistole zog und auf die Familie richten wollte, ergriff Henriettes Vater seine Chance und griff ihn an. Er schrie seiner Tochter zu, einfach nur loszulaufen und sich nicht mehr umzudrehen. Dies tat Henriette dann auch. Sie verschwand in die Dunkelheit der Nacht und hörte nur noch zwei Schüsse. Unter anderem vernahm sie noch das Schreien ihrer Mutter und danach nur noch Stille. Innerhalb weniger Sekunden war Henriette zum Waisenkind geworden. Sie konnte den Schülern nicht mehr genau sagen wie lange sie gelaufen war. Irgendwann jedoch legte sie sich im Schutze einer Hecke zum Schlafen. Am nächsten Morgen dann packte sie zunächst die pure Verzweiflung. Sie wusste zunächst nicht wohin sie gehen sollte. Dann aber erinnerte sie sich an ein von Nonnen geführtes Waisenhausdessen Leiterin Patientin ihres Vaters war und der sie vertrauen konnte.Sie wurde dort aufgenommen und bis zum Einmarsch der roten Armee versteckt. Aus ihrer Familie hatte nur einer ihrer Onkel überlebt. Alle anderen wurden in der Zeit der Besatzung ermordet. 

Auch in diesem Fall hörten die Schüler der Zeitzeugin andächtig und voller Bewunderung für ihre Stärke, die es zweifelsohne benötigt um über solch schreckliche Erlebnisse zu berichten  zu.  

Im Anschluss an das Gespräch mit Frau Kretz überreichte Herr Gundlach vom Freundeskreis Jüdisches Bingen, einer Delegation der Geschichts-AG, unter der Leitung ihres Lehrers Herrn Marcel Griesang, Frau Becker als Direktorin und Herrn Schmitt als Konrektor, eine Patenschaftsurkunde. Ziel ist es in Zukunft zusammen Projekte gegen Rassismus und Ausgrenzung zu verwirklichen. Bereits im zurückliegenden Schuljahr hatte man, etwa durch die Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht oder aber die Reinigung der Stolpersteine, eine Grundlage für die zukünftige Kooperation gelegt. In diesem Sinne ist es auch verständlich, das Hermann Josef Gundlach, als Vorsitzender des Freundeskreises jüdisches Bingen, die Patenschaft in der von der Schule angestrebten Mitgliedschaft im Netzwerk Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage übernehmen wird. An der Urkundenübergabe wirkte auch die Bildungsministerin Frau Dr. Stefanie Hubig mit, die zuvor schon am Gespräch mit Frau Kretz und den Schülern teilgenommen hatte.

Im Anschluss an die Urkundenübergabe verließ die Gruppe der Rochus-Realschule den Jakobsberg mit vielen wertvollen Erfahrungen im Gepäck. Dabei waren sich alle an der Planung und an den Gesprächen beteiligten Personen darin einig, dass solche Gespräche den Schülern bei ihrer eigenen politischen Findung in der Zukunft eine große Hilfe sein werden. 

An dieser Stelle möchte die Schulgemeinschaft besonders Herrn Bauer vom Bischöflichen Ordinariat in Mainz für die Einladung auf den Jakobsberg danken. Ein weiterer Dank geht natürlich auch an die Zeitzeugen, die Ihre Erfahrungen mit den Schülern teilten und damit eine unschätzbar wichtiges Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung setzten. Ihre Erlebnisse haben dieses Treffen zu einer unbeschreiblich wertvollen Erfahrung für alle Beteiligten gemacht.