Fast ein ganzes Schuljahr hatten sich die Schüler der Geschichts-AG der Rochus- Realschule Bingen, zusammen mit ihrem Lehrer Marcel Griesang, mit verschiedenen Themen die jüdische Geschichte der Region betreffend auseinandergesetzt. Natürlich stand dabei auch die Verfolgung und die am 20. Januar 1942 auf der Wannseekonferenz in Berlin abgestimmte „Endlösung der Judenfrage“ im Mittelpunkt der thematischen Auseinandersetzung. Insgesamt 23 Schüler begaben sich nun mit ihren Lehrern Marcel Griesang, Barbara Junge und Kristain Neyer auf eine Fahrt nach Krakau. Dort besuchte man zunächst eine der ehemals größten jüdischen Gemeinden, die es vor dem Einmarsch der Wehrmachttruppen in Polen gab. In Kazimierz hatten über hunderte von Jahren Christen und Juden weitestgehend friedlich zusammengelebt und sich miteinander arrangiert. Vom einstmals so blühenden Leben zeugen heute noch einige gut erhaltene Synagogen. So besuchte die Gruppe die Remuh Synagoge, deren Inneres vor wenigen Jahren mühevoll renoviert wurde. Auf dem benachbarten Friedhof konnten die Schüler die mit religiösen Symbolen verzierten aus Sandstein bestehenden Grabsteine betrachten. Die auf den Steinen befindlichen Symbole verrieten ihnen dabei so einiges über die dort begrabenen Personen selbst. So standen sich haltende Hände zum Beispiel dafür, dass in diesem Grab ein Ehepaar begraben lag und die Hände sollten eine Verbundenheit über den Tod hinaus ausdrücken.
Neben den Synagogen und Friedhöfen suchten die Schüler auch einige der ehemaligen Drehorte des Films Schindlers Liste vom Regisseur Steven Spielberg auf. Der Film zog Anfang der 90er Jahre die Aufmerksamkeit einer breiten Masse auf sich und machte die Geschichte Oskar Schindlers, der mit seiner Fabrik und den dort angestellten jüdischen Arbeitern Produkte für die deutschen Truppen herstellte, weltweit bekannt. Hatte Oskar Schindler zunächst noch von den billigen Arbeitskräften aus dem nahe gelegenen Getto Profit machen wollen und durchaus Sympathien für die Nazis gehegt, so änderte sich dies mit der Erkenntnis, wie menschenverachtend dieses Regime vor allem gegenüber den Juden war, schlagartig. Anstatt weiter auf Gewinn aus zu sein, versuchte Schindler alles um mit seinem bereits gemachten Gewinn und seinem generellen Besitz so viele seiner Arbeiter wie möglich zu retten. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee schaffte er es auf diese Weise über 1200 Menschen zu retten, weswegen er später auch vom Staat Israel als Gerechter unter den Völkern erklärt und sogar in Jerusalem begraben wurde.
Von Kazimierz aus begab man sich anschließend auf die andere Seite der Weichsel. Dort richteten die Nationalsozialisten, unter dem Führer des nach dem Einmarsch in Polen errichteten Generalgouvernements (so nannte man den Teil Polens, der nicht an das Deutsche Reich angegliedert wurde) Hans Frank, das sogenannte Judengetto ein. Insgesamt 65.000 jüdische Bürger lebten bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Kazimierz. Viele von ihnen wurden bereits kurz nach dem Einmarsch von SS-Sonderkommandos, genauso wie die polnische Führungselite, erschossen. Die noch verbliebenen rund 15.000 jüdischen Einwohner wurden im Stadtteil Podgorze hinter einer Mauer, die jüdischen Grabsteinen ähnelte, zusammengepfercht. Ein Verlassen des Gettos ohne Genehmigung war strengstens verboten und wurde mit der Todesstrafe geahndet. Die Zustände innerhalb des Gettos wurden mit der Zeit immer unerträglicher. Oftmals mussten sich bis zu sieben Personen ein Zimmer teilen und es herrschte ständig Hunger und Durst. Zur gesundheitlichen Versorgung der Menschen gab es innerhalb der Mauern nur eine Apotheke. In der Adler-Apotheke sorgte der polnische Besitzer Tadeusz Pankiewicz für die gesundheitliche Unterstützung der Leidenden. Er schaffte es mit den sehr eingeschränkten ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Leid der Bewohner zumindest etwas zu lindern. Überdies versteckte er unter Einsatz seines Lebens vor allem jüdische Kinder, die bei den Deportationen der Nationalsozialisten zumeist direkt verladen wurden.
Ein Kind, das im Krakauer Getto 1941 geboren wurde, sollten die Schüler während ihres Aufenthalts in Polen selbst treffen. Dabei fand die Zusammenkunft im Galizisch-Jüdischen Museum in Kazimierz statt.
Rena Rach wurde wie bereits gesagt am 12. Mai 1941 im jüdischen Getto in Krakau geboren. Bereits am 1. September 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen und damit den 2. Weltkrieg ausgelöst. Im Getto herrschten schlimme Lebensumstände. Es war sehr beengt und es gab nur wenig zu essen. In diesen Verhältnissen mussten die Eltern Renas versuchen ihr kleines Baby am Überleben zu halten. Ihr Vater fand schließlich Ende 1941 Arbeit in der Emaille- Fabrik von Oskar Schindler. Er sollte als sogenannter „Schindlerjude“ die Nazizeit, trotzdem man ihn später ins berüchtigte Lager Plaszow brachte, wo der sadistische Lagerkommandant Amon Göth das Sagen hatte, überleben. Renas Mutter blieb in dieser Zeit mit der Tochter alleine im Ghetto zurück. Als sie von der Auflösung des Gettos 1943 erfuhr, die Nazis hatten zu diesem Zeitpunkt beschlossen alle noch in Krakau verbliebenen Juden nach Auschwitz und in die anderen Todeslager zu deportieren, floh sie mit ihrer Tochter. Sie schloss sich mit Rena einer kleinen Gruppe an, um durch die Kanalisation aus dem durch Wachen kontrollierten Getto zu gelangen. Als sie außerhalb des Gettos aus der Kanalisation stiegen, sprach sie unmittelbar ein Bahnarbeiter an. Er versprach ihnen sie mit Lebensmitteln zu versorgen und riet ihnen sich so lange in einem Eisenbahnwaggon zu verstecken. Renas Mutter hatte ein schlechtes Gefühl und entschloss sich daher auf eigene Faust weiterzuziehen. Ihr Gefühl sollte sie in diesem Fall nicht täuschen. Wie sie später erfuhr, hatte der Bahnarbeiter die Nazis alarmiert und alle im Zug versteckten Personen wurden an Ort und Stelle erschossen. Renas Mutter suchte eine gute Freundin auf und bat um Unterschlupf. Die Freundin stimmte jedoch nur zu sie zu verstecken, da sie durch das Kleinkind zu viel Aufmerksamkeit befürchtete. Rena wurde daraufhin bei einer christlichen Familie versteckt und getauft. Ihr Name wurde ebenfalls geändert. Man erzog sie ganz im christlichen Glauben, in der Annahme, dass die neue Familie ihre echte Familie sei. Ihre leibliche Mutter Leonora besuchte ihre Tochter in der Folge einmal im Monat. Sie durfte sich aber nicht als ihre richtige Mutter zu erkennen geben.
Als nun die Rote Armee Krakau befreit hatte, wollte Leonora ihre Tochter wieder zu sich holen. Die christlichen Retter weigerten sich jedoch ihr Ziehkind herzugeben. Für sie war Rena zu der Tochter geworden, die sich das kinderlose Paar immer gewünscht hatte. Schließlich entschloss sich Leonora ihre Tochter auf einem Spaziergang über ihre wahre Identität aufzuklären. Nahezu im gleichen Moment kam auch ihr Vater wieder zurück. Sie zogen zusammen mit Rena in ihre alte Wohnung in Kazimierz. Leider nahm die Geschichte, so erfuhren die Schüler weiter, für beide Seiten kein schönes Ende. Rena berichtete den Schüler davon, dass ihre eigentlichen Eltern für sie komplett fremd geworden waren. Auch ihre jüdische Religion war für sie nicht mehr zu verstehen. Sie sehnte sich nach ihren Adoptiveltern und weinte nahezu täglich. Außerdem zog es sie zur christlichen Marienkirche und nicht in eine der Synagogen von Kazimierz. Ihre Eltern und vor allem den Vater schmerzte dies sehr. Auch ihre Adoptiveltern versanken in Trauer. Ihr Adoptivvater begann stark zu trinken und verunglückte schließlich unter dem Einfluss von Alkohol tödlich. Kurz darauf verstarb auch ihre Adoptivmutter. Leonora, die leibliche Mutter, begann ihrer Tochter die Schuld an allem Unheil, das der Familie seit 1941, dem Jahr ihrer Geburt, widerfahren war, zu geben. Sie ließ dies Rena jeden Tag aufs Neue spüren, indem sie sie ignorierte. Als dann 1947 ihr kleiner Bruder geboren wurde, war Rena endgültig für ihre Mutter nur noch Ballast.
Wer nun von den Schülern glaubte, dass sich Rena von ihrer Familie abwendete, sah sich getäuscht. So berichtete sie der gespannt lauschenden Gruppe, dass ihr Bruder schließlich nach Frankreich auswanderte, was die Mutter sehr in Trauer versetzte. Als ihr Mann dann starb und Leonora pflegebedürftig wurde, kehrte Rena zurück zu ihr und kümmerte sich bis zu ihrem Tod rührend um sie. Rena sah dies als einen Dank dafür an, dass ihre Mutter sie 1943 gerettet und nicht im Getto zum Sterben zurückgelassen hatte.
Nach einem rund 90-minütigen Gespräch hatte Rena aber auch noch eine Frage an die Schüler. Sie wollte von ihnen wissen, ob es dann langsam an der Zeit sei, die Geschehnisse von damals zu vergessen. Sofort meldete sich eine Vielzahl der anwesenden Schüler, was Rena und auch die anwesende Übersetzerin sehr erstaunte. Die Schüler versicherten ihr, dass die Erinnerung in der heutigen Zeit wichtiger denn je sei, da es auch heute wieder viele Menschen gebe, die gegen andere aus den verschiedensten Gründen hetzen. Eine solche Hetze, so die Schüler, könne schnell auch wieder zur Verfolgung und noch schlimmeren Dingen führen.
Das Gespräch beschäftigte die Schüler auch in den folgenden Tagen noch sehr und alle waren dankbar mit einer so beeindruckenden Persönlichkeit wie Rena Rach zusammengekommen zu sein.
Der für die Schüler jedoch schwerste Gang der Studienfahrt sollte noch anstehen. Während man in Krakau selbst in kleinen Teams die Führung zu bestimmten Orten übernommen und dort die Hintergründe erklärt hatte, führte die Schüler die Fahrt nun an einen der dunkelsten Orte der Geschichte. Wohl kaum ein anderer Ort ist so nah mit dem Holocaust verbunden wie Auschwitz. Die Schüler waren an diesem Samstagmorgen die erste Gruppe die bei klirrender Kälte das ehemalige Stammlager Auschwitz betrat. Hier hatten die Nazis 1940 mit dem Umbau einer ehemaligen polnischen Kaserne zu einem Konzentrationslager begonnen. Die roten Backsteingebäude bilden heute noch eine erschreckende Szenerie die den Besucher erschaudern lässt. In den ehemaligen Blöcken von Auschwitz sind heute verschiedene Bilder und Exponate aus der damaligen Zeit ausgestellt. Die Schüler berührten dabei besonders die vielen Bilder der abgemagerten Lagerinsassen und dabei besonders die der Kinder. Das Bild eines zweijährigen Kindes, das bei der Befreiung 1945 aufgrund von Unterernährung aussah wie ein Säugling, ließ die Schüler nicht mehr los. Auch die früher in der sogenannten Kanada-Baracke gelagerten Habseligkeiten (diese wurde von der SS so bezeichnet, da Kanada als Land für Reichtum stand) der Lagerinsassen hinterließen einen bleibenden Eindruck bei den Schülern. Die Berge von Schuhen, Besteck, Kleidung, Prothesen und sogar Menschenhaar, die sich sie hinter den Scheiben auftürmten, gaben den Schülern zumindest einen vagen Eindruck der hier stattgefunden Verbrechen.
Im Rahmen des Rundgangs besuchte man auch den bei allen Häftlingen gefürchteten Block 11. In diesem befanden sich die Arrestzellen, wo Häftlinge durch Dunkel- oder auch Hungerhaft noch zusätzlich gequält wurden. Auch die gerade einmal 90 mal 90 Zentimeter breiten Stehzellen, in denen zumeist vier Menschen gleichzeitig eingesperrt wurden, ließen die Schüler erschaudern. Im Innenhof des Blocks 11 befand sich die Erschießungswand. Hier reihte die SS nach schier endlosen Orgien der Quälerei die Insassen der Arrestzellen am Ende zumeist auf, um sie hinzurichten. Anschließend wurden die Leichen dann ins Krematorium I. gebracht und verbrannt.
Zum riesigen Lager gehörten noch zwei weitere Teile. Diese waren Auschwitz-Birkenau und Auschwitz-Monowitz. Zum zuerst genannten Lagerteil machten sich die Schüler am Nachmittag auf. In Auschwitz-Birkenau errichteten die Nazis ab 1942 eine riesige Mordfabrik. Auf der Rampe, die später bis kurz vor die Gaskammern reichte, wurden die Selektionen der ankommenden Menschen vorgenommen. SS-Ärzte entschieden dort per Augenmaß über Leben und Tod. Der berüchtigte Arzt Josef Mengele machte sich bei dieser Auswahl besonders verdient, indem er tausende zumeist schwache Frauen und Kinder sofort in den Tod schickte. An Zwillingen und Menschen mit besonderen körperlichen Auffälligkeiten führte der sogenannte Todesengel von Auschwitz dann Experimente durch.
Während ihres Rundgangs kamen die Schüler auch zu einer ehemaligen Häftlingsbaracke, die nichts anderes war als ein einfacher Pferdestall. Hier mussten die Menschen unter kaum vorstellbaren hygienischen Zuständen in kalten Wintern und heißen Sommern ausharren. Zwischen 4 und acht Personen teilten sich zumeist eine Holzpritsche der Etagenbetten. Die Latrinenbarracke durfte man, so erfuhren die Schüler, nur zwei Mal am Tag aufsuchen. Ansonsten war dies den zumeist an Durchfallerkrankungen leidenden Häftlingen nicht gestattet. Die Latrine war dabei nichts anderes als ein langer Steinblock, der mit vielen Löchern bestückt war.
Entlang der Selektionsrampe ging die Gruppe dann zu zweien am Ende befindlichen ehemaligen Gaskammern. Dort wurden die Menschen bis zur Befreiung des Lagers im Glauben hingeführt desinfiziert zu werden. Anstelle der Desinfektion wurden sie jedoch mit Hilfe des Gases Zyklon B. ermordet. Die Gaskammern waren dabei im Keller unter den Krematorien befindlich. Zunächst wurden die Menschen zum Ablegen ihrer Kleidung in einem mit Bänken ausgestatteten Vorraum gebeten, um dann anschließend in die als Duschräume getarnten Kammern geführt zu werden. Nachdem der Tod der Menschen eingetreten war, räumte das sogenannte Sonderkommando, dies waren jüdische Häftlinge, die von den Nazis zum Verbrennen der Leichen und zum generellen Betrieb der Gaskammern ausgewählt worden waren, die toten Körper aus den Gaskammern. Insgesamt fünf solcher Tötungseinrichtungen und zwei zusätzliche in ehemaligen Bauernhäusern eingerichtete Gaskammern gab es in Auschwitz.
Die Schüler erfuhren an dieser Stelle auch, dass es am 7. Oktober 1944 einen Aufstand eines Teils des Sonderkommandos gab. So schafften sie es durch illegal besorgten Sprengstoff sogar das Krematorium vier zu zerstören. Die übrigen Gaskammern sprengte die SS vor Eintreffen der Roten Armee selbst, um die Spuren ihres Mordwerkes zu verschleiern.
Am Ende des Tages verließen die Schüler diesen so grauenvollen Ort mit vielen Eindrücken und Gedanken, die sich nur schwer in Worte fassen ließen. Dies wurde bei der abendlichen Besprechung in Krakau besonders deutlich. Viele Schüler taten sich sehr schwer damit ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und erbaten sich noch etwas Zeit, um die Eindrücke zu sortieren. Wiederum andere konnten einfach nicht verstehen, wie Menschen zu so etwas fähig sein konnten. Über viele dieser Täter, unter anderem den ehemaligen Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höss, hatte man erfahren, dass sie selbst Familienväter waren. Wie solche Menschen zu herzlosen Mördern werden konnten, schien für die Schüler einfach unbegreiflich.
Während die Schüler noch mit den Erlebnissen und deren Einordnung versuchten klar zu kommen, waren sie sich jedoch darin einig, dass sich so etwas wie damals nie wieder auch nur in Ansätzen wiederholen darf und man aktiv an einer Erinnerung an die damaligen Geschehnisse mitwirken müsse. Durch das Wachhalten der Erinnerung an die Ereignisse, so die Schüler, könne ein jeder einen kleinen Beitrag zum Kampf gegen Hass und Ausgrenzung leisten.
Die Schüler der Rochus-Realschule waren sich auch darin einig, dass ein jeder Schüler, so schlimm die Eindrücke auch sein mögen, einen solchen Ort wie Auschwitz einmal im Leben aufsuchen sollte, denn erst dort könne man die Dimensionen der damaligen Verbrechen in Ansätzen begreifen.
Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle auch die äußerst großzügige Unterstützung der Bethe-Stiftung, ohne die eine solche Studienfahrt nur schwer möglich gewesen wäre. Vielen Dank dafür.