10.04.2021

Zeitzeugengespräch einmal anders

Zur Zusammenkunft auf eine etwas andere Art als in normalen Zeiten kam es zwischen 26 Schülerinnen und Schülern, ihrem Geschichtslehrer Marcel Griesang  und Frau Henriette Kretz aus Antwerpen. Frau Kretz berichtete den Schülern dabei im Rahmen eines online arrangierten Zeitzeugengesprächs über ihre dramatische Familiengeschichte, die eng mit der Zeit der Nazidiktatur in Europa verbunden ist. Sie berichtet ihren Zuhörern dabei davon, dass sie eine sehr unbeschwerte und schöne Kindheit in ihrer polnischen Heimat verlebte. Ihre Eltern waren wohlsituiert und übten die Berufe Arzt und Anwalt aus. Alles sollte sich eines Tages ändern, als Henriette zum ersten Mal das Wort Krieg vernahm. Sie meinte damit den 1. September 1939 und den Überfall der Nazis auf Polen. Ihr Vater kam bereits nach wenigen Tagen von der Front zurück, da die polnische Armee keine Chance mit ihren veralteten Waffen gegen die hochgerüstete deutsche Wehrmacht hatte. Man entschloss sich daher nach Lemberg zu fliehen, da dieser Teil gemäß des Hitler-Stalin-Paktes an Russland gefallen war. Dort arbeitete ihr Vater dann in einem Kinderheim, in dem an Tuberkulose erkrankten Kindern geholfen wurde. Bereits zu diesem Zeitpunkt war ihnen schon klar, dass sie als Juden unter keinen Umständen den Nationalsozialisten in die Hände fallen dürften.

Eines Tages dann holte sie jedoch auch hier der Krieg ein. Im Juni 1941 überfiel die Wehrmacht auch den vorherigen Partner gegen Polen, Russland. Eilig verließen die russischen Soldaten die Region um Lemberg, um die Verteidigung gegen die Wehrmacht vorzubereiten. Für Henriettes Vater war eine so lebenswichtige Flucht gegen Osten jedoch ausgeschlossen. Er wollte die ihm anvertrauten Kinder im Erholungsheim nicht im Stich lassen. Daher blieb die Familie, auch wenn ihnen klar war, welche Folgen dies aufgrund der menschenverachtenden Ideologie der Nazis für sie wohl haben würde. Henriette Kretz schilderte den Schülern dann von ihrer ersten Zusammenkunft mit den Besatzern. Sie sah die deutschen Soldaten durch die Straßen des Ortes marschieren und konnte als junges Mädchen nicht glauben, dass diese so schön aussehenden und gut gekleideten Soldaten so böse sein sollten, wie viele sie ihr zuvor beschrieben hatten. Ihr Eindruck sollte sich jedoch alsbald als falsch herausstellen.

In den folgenden Jahren entkamen sie und ihre Familie den Nazis oft nur knapp. Unter anderem musste sie sich zwischendurch bei einer christlichen Familie hinter einem Schrank verstecken, während ihre Eltern in einem jüdischen Ghetto einkaserniert wurden. Auf ihrer  Flucht erhielt sie mit ihrer Familie oftmals auch Hilfe von Mitbürgern, obwohl dies lebensgefährlich für die Helfer war. So gelang es ihr aus dem Gefängnis, wo man jüdische Bürger sammelte um sie in die nahegelegenen Vernichtungslager zu bringen, herausgeholt zu werden. Auch aus dem Ghetto konnten sie und ihre Eltern dank der Hilfe von Mitmenschen fliehen. So brachte sie schließlich ein ukrainischer Feuerwehrmann mit seiner Frau in einem engen Kohlekeller unter. Dort musste das junge Mädchen über Monate verharren. Wie lange genau, kann sie heute nicht mehr genau sagen. Ihre Eltern versuchten dabei den Aufenthalt so gut wie möglich für ihre Tochter zu gestalten, indem sie ihr Geschichten erzählten und leise Lieder vorsangen.  Dabei musste man natürlich stets sehr vorsichtig sein, denn die Gefahr enttarnt zu werden war immer gegeben.

Schließlich kam es dazu, dass Henriette und ihre Eltern auf den Dachboden des Hauses ihrer Beschützer umziehen konnten. Die Rote Armee war schließlich nicht mehr weit weg und man konnte die Rettung förmlich schon greifen. Leider hatte das Schicksal etwas anderes mit der Familie vor. Kurz vor der Befreiung wurde ihr Versteck verraten. Von wem, weiß Henriette bis heute nicht. Es erschienen dabei zwei deutsche Soldaten auf dem Dachboden und forderten die Familee zum Mitkommen auf. Henriette erinnerte sich im Gespräch noch gut an den schönen Sommerabend. Da es schon nach der Ausgangssperre durch die Deutschen war, waren keine weiteren Personen auf der Straße unterwegs. Plötzlich sagte Henriettes Vater zu ihren Bewachern, dass er sich nicht wegbringen lassen würde und sie ihn ruhig sofort erschießen könnten. Daraufhin zog einer der Soldaten eine Waffe und sagte, dass dies kein Problem sei. Henriettes Vater rief seiner Tochter daraufhin zu sofort loszulaufen, was sie dann auch tat. Beim Laufen hörte sie dann Schüsse und das Schreien ihrer Mutter. Anschließend fielen dann noch weitere Schüsse und Henriette war sofort klar, dass sie nun ein Waisenkind war. Sie wusste nicht wohin und hatte unheimliche Angst. Um nicht erkannt zu werden, schließlich war sie alleine unterwegs und das auch während der Speerstunde, versteckte sie sich. Ihr Ziel war es später das Waisenhaus der Stadt zu erreichen, da sie sich dort Schutz erhoffte. So sollte es auch kommen. Im Waisenhaus versteckten sie die Ordensschwestern zusammen mit weiteren jüdischen Kindern bis zum Eintreffen der Roten Armee.

Die Schüler und einige Eltern, die dem online Gespräch beiwohnten, hingen für fast drei Stunden an den Lippen der Zeitzeugin. Das Gespräch, und dies unterstreicht das vorhandene Interesse der Schüler an dieser Thematik, fand unmittelbar im Anschluss an die Videokonferenzen im Rahmen der 6. Stunden Vormittagsunterricht statt.
Wie beeindruckend das Gespräch mit Frau Kretz war, vermitteln auch die folgenden Rückmeldungen einiger Schüler. Sie zeigen, wie wichtig es für die jetzige Generation noch ist, die letzten Zeugen der damaligen Geschehnisse selbst zu hören, um ihre Geschichten später weiterzugeben.

Demgemäß gab ein Schüler der 10. Klasse und Teilnehmer der schuleigenen Geschichts-AG folgende Rückmeldung:

„Für mich war der Nachmittag eine sehr gute Erfahrung und es war auch sehr wichtig, zu sehen zu was Rassismus führen kann. Auch für den Schulunterricht hat es mir sehr geholfen, da man sich so besser in die Geschehnisse der damaligen Zeit hineinversetzen kann. Man erfuhr dabei, wie  sich die Menschen verstecken mussten und schon junge Menschen eine Kindheit unter Angst und menschenunwürdigsten Verhältnissen führen mussten…"Ich denke, es ist wichtig, dass man erfährt was damals passiert ist und wenn man dann noch mit einem Zeitzeugen redet, realisiert man erst richtig, dass die NS-Zeit gar nicht so lange her ist wie man manchmal denkt, wenn man Jahreszahlen hört oder schwarz-weiß  Aufnahmen sieht“.
Ein Schüler der 9. Jahrgangsstufe gab folgende Rückmeldung im Anschluss an das Gespräch:
„Ich bewundere Frau Kretz, denn nach so einem Schicksal hat sie den Glauben an die Menschheit nicht verloren, was eigentlich nach ihren Erfahrungen meiner Meinung nach  normal gewesen wäre. Ihre Haltung ist  für mich bemerkens- und bewundernswert.
Frau Kretz hat uns gezeigt, dass, egal was passiert, es immer Menschen  gibt, die einem helfen werden und man (…..) nie aufgeben sollte“.